Erinnerung, zweite Gegenwart oder Erinnerung an den Schnee von gestern
Als ich ein Kind war, spielte ich mit einer Inbrunst und einer Leidenschaft, dass ich die Zeit vergaß. Es war eine Ewigkeit. Und eines unserer Spiele, bald nach der Laufgitterzeit, hieß auch so: Ewigkeit. Mit Rita und Luischen, unten, eine Art Doktorspiel -in der Garage an der Straße von Wien nach Paris.
Hätte mich damals einer gefragt: »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«, dann hätte ich sagen können:
»Ich habe gelebt.«
Und nach der Zeit gefragt, hätte ich mir sagen müssen: »Sie ist vergangen.«
Trotzdem hätte ich nun weinen können, vielleicht auch nur »weggeddemm«. Wie das einst zu Hause hieß. Auch weil die Stelle von der Messerimpfung, die wir beim Baden im Lausheimer Weiher miteinander verglichen, so schön verheilt war, sodass man nichts mehr davon sah, und wir mussten lachen. Doch wir hätten auch weinen können. Weil alle Stellen so schön verheilen. Nichts lässt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein.
Und nun, und doch: Jeder... Mensch, ob Mann, Frau, Schriftsteller, oder einfach Dichter und Idiot, hat eine Verletzung, eine Wunde, aus der es weiter blutet. Erinnerungsweise. Selig der Mann, dessen Schmerz zur Sprache wurde.
Die Erinnerung ist eine Bluterkrankheit. Es fehlt wohl das Gerinnungselement des Vergessens.
»Ich blute, also bin ich«, das sollte mein erster Satz sein.
Wenn wir brennen
Lisi steht mit dem Besen im Hof. Antonius kommt von der Einweihung des Krematoriums zurück. Er erzählt ihr, wie es ist, wenn wir brennen. Antonius will sich nicht mehr verbrennen lassen. Das Auto ist schon gewaschen. Sie hat einen sauberen Stallbesen in der Hand, grobes Material, selbst gebunden. Lisi wird gleich schlecht, wenn Antonius nicht gleich mit seinem Krematorium aufhört. Seine Frau soll keine Arbeit haben mit ihm. Saubere Sache. Das Krematorium hatte einen Tag der offenen Tür. In den Ofen konnte man durch ein Loch sehen. Lisi sagt, Antonius solle jetzt aufhören. Die Ziege sei noch einmal aufgestanden. Es sei den meisten schlecht geworden. Am Morgen und am Nachmittag hätten sie eine Ziege verbrannt, um zu zeigen, wie die Anlage funktioniert. Er habe sogar sofort kotzen müssen, obwohl er nur einmal kurz durch die Luke geschaut habe. Lisi habe keinen Grund zum Kotzen, sie sei ja gar nicht dabei gewesen. Normal dauere es viel länger. Vier Stunden. Der Sarg glüht und wird durchsichtig.
Antonius erklärt ihr den Weg zum Krematorium. Es stellt sich heraus, dass sie die Neuapostolische Kirche für das Krematorium hielt. Lisi stützt sich auf den Besen. Sie schüttelt den Kopf. Antonius hat alles erzählt. Ilse sei seit zwei Wochen im Krankenhaus. Es sehe schlimm aus. Sie dürfe bald nach Hause. Man habe aufgeschnitten und gleich wieder zugemacht.
Antonius fährt weiter. Lisi muss noch den Hof kehren. Die Glocken läuten den Sonntag ein.
Einer meiner Vorfahren war mit Napoleon in Ägypten. Auf den Feldern stehen Mengele-Landmaschinen herum. Die Wegwarte ist mein Lieblingsblau